Queerfeminstische Perspektiven auf Wohnen in Zeiten von Corona

Heute ist Housing Action Day – ein europaweiter Aktionstag gegen den Mietenwahnsinn und Wohnraum als Spekulationsobjekt; gegen Zwangsräumungen auf der einen und Leerstände auf der anderen Seite. Die geplanten Demos zum Aktionstag können aufgrund der Corona-Pandemie nicht stattfinden. Allgemein gilt die Ansage: Bleibt zu Hause!

„Zuhause“ ist auch Thema des Housing Action Days. Denn zur aktuellen Situation gehört eben auch, dass „zu Hause bleiben“ leicht gesagt, aber nicht für alle Menschen leicht umgesetzt ist. Eins vorweg: Wir stellen uns nicht gegen zeitlich begrenzte und sinnvolle Maßnahmen zur Kontaktreduzierung. Natürlich ist es enorm wichtig, die Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Das schützt Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen. Und alle, die gerade ihre Gesundheit in plötzlich „systemrelevanten“ Jobs aufs Spiel setzen, beispielsweise in den Krankenhäusern, Pflegeheimen und Supermärkten, um die Grundversorgung aufrecht zu erhalten.

Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass es hier enorme Schieflagen zwischen den Geschlechtern gibt – in der Betroffenheit durch das Virus und in den Auswirkungen eines profitgetriebenen Wohnungsmarktes. Wir schließen uns den Forderungen des Housing Action Days an und möchten im folgenden auf drei Punkte eingehen, die uns besonders wichtig sind.

„Applaus zahlt keine Miete“ – Moratorium für Mietzahlungen! – Stopp von Räumungsklagen und Zwangsräumungen! – Keine Energie- und Wassersperren!

In den letzten Wochen gab es Aktionen, bei denen Menschen aus ihren offenen Fenstern und von Balkonen denjenigen applaudiert haben, die gerade „systemrelevante Berufe“ ausüben; also medizinischem Personal, Pflegekräften, Kassierer*innen im Supermarkt oder Postbot*innen. In genau diesen „systemrelevanten Berufen“ arbeiten zu einem erheblichen Anteil Frauen*. Zugleich arbeiten genau diese Berufsgruppen häufig unter prekären Bedingungen und verdienen viel zu wenig Geld. Das heißt auch, sie geben einen höheren Anteil ihres Gehalts für Wohnraum aus – der ihnen dann für anderes fehlt. Und das heißt auch, dass sie sich nur weniger guten Wohnraum leisten können. Kleine Wohnungen, keine Gärten, außerhalb und schlecht angebunden. Alte Bausubstanz, wo ständig was kaputt geht und mit schlechter Energiebilanz, was zu höheren Heizkosten führt. Mit vielen Menschen auf wenigen Quadratmetern und in wenigen Zimmern. Zugleich werden diese Immobilien besonders schnell Objekte von Spekulationen, weil Investoren hier das Potential zu Luxussanierung oder Neubau sehen. Die Folgen für Menschen mit niedrigem Einkommen liegen auf der Hand: Sie werden „rausgeekelt“, durch Mieterhöhungen vertrieben und in letzter Konsequenz zwangsgeräumt. Und wen trifft das besonders hart? Richtig, prekär Beschäftigte – (auch) in den viel beklatschten systemrelevanten Berufen. Und damit eben besonders häufig Frauen*. Aber was bringt ihnen der Applaus, wenn das nächste Mal eine Mieterhöhung kommt?

Die richtigen Forderungen sind jetzt: Lohnerhöhungen, Gefahrenzulagen, Arbeitsschutzmaßnahmen und ein Gesundheitssystem, das dem Interesse des Wohls aller dient und nicht dem Profit weniger. Schluss mit Ökonomisierung und Privatisierung im Gesundheits- und sozialen Sektor.

„Schutz vor Corona braucht ein Zuhause“ – Beschlagnahmung von leerstehenden Wohnungen sowie Ferienwohnungen! – Schutz vor Gewalt sicherstellen!

„Stay the fuck home“, so das allgemeine Credo dieser Tage. Während einige die Zeit der Entschleunigung zu Hause genießen, ist es für andere ein lebensgefährlicher Ort. Häusliche sowie sexualisierte Gewalt finden überwiegend im eigenen Wohnraum oder im nahen Umfeld statt. Durch Krisensituationen erhöht sich das Risiko zusätzlich. Viele Familien müssen nun auf engstem Raum ungewohnt viel Zeit miteinander verbringen. Dazu kommen oft Existenzängste. Durch Quarantänemaßnahmen und Kontaktverbote sind Betroffene noch isolierter und ungeschützter als zuvor. Bereits jetzt sind Frauenhäuser überfüllt und die Telefone von spezialisierten Frauenberatungsstellen klingeln heiß. Besonders Frauen*, die auch in finanzieller Abhängigkeit von Männern leben oder wohnungslose Frauen brauchen Möglichkeiten für einen eigenen Wohn- bzw. Schutzraum. Doch bezahlbarer Wohnraum ist rar. So dauert es mitunter ein Jahr bis eine Frau (und ihre Kinder) aus dem Frauenhaus in eine eigene Wohnung ziehen kann. Wenn sie Fluchterfahrung hat und/ oder Sprachbarrieren, dauert es noch länger. Diese Plätze sind dann belegt und können nicht für Frauen*, die aus einer akuten Notsituation fliehen müssen, genutzt werden. „Stay the fuck home“ ist somit auch immer ein Ausdruck der eigenen Priviligiertheit und bei weitem nicht für alle Frauen* selbstverständlich. Ausgangssperren und weitere Maßnahmen zur Kontaktreduzierung würden diese Situation noch verschlimmern. Schutz von Frauen* und Kindern vor häuslicher und sexualisierter Gewalt muss sichergestellt werden. Hier möchten wir noch zusätzlich betonen, dass gerade queere und nicht geoutete Jugendliche der Autorität in ihren Familien besonders ausgeliefert sind ohne die Möglichkeit zu haben, ihre Freund*innen zu treffen oder spezielle Anlaufstellen und Freizeitmöglichkeiten zu nutzen.

Und wir haben noch nicht von jenen Menschen gesprochen, die auf den griechischen Inseln und an der europäischen Außengrenze obdachlos auf Hilfe warten. Während hier das große „Wir“ geschmiedet wird, werden Menschen auf der Flucht sich selbst überlassen und wären bei einem Ausbruch der Krankheit Corona völlig ausgeliefert. Deshalb: Holt die Menschen von den Inseln. #leavenoonebehind

Warum dem Feminismus und erkämpften Freiheiten ein Backlash droht

Corona katapultiert viele Frauen zurück in ein Rollenbild der 50er Jahre. Wenn Schulen und Kitas schließen sind es Frauen, die die familiären Sorgearbeiten übernehmen. Nicht dass das sonst nicht der Fall wäre, aber die Krise macht das Dunkle noch dunkler und die unsichtbaren familiären Aufgaben (reproduktive Arbeit) noch unsichtbarer. Dass die Löhne ungleich verteilt sind und Frauen öfter in schlechter bezahlten Jobs oder Teilzeit arbeiten, ist hinlänglich bekannt. In Krisenzeiten wirkt sich das noch ungünstiger aus als sonst. Wird den Frauen* normalerweise zumindest ein Teil der privaten Lasten von Schulen, Kitas und Freizeiteinrichtungen genommen, fällt dies gerade weg. Und wenn der Verdienst des Partners höher ausfällt, ist klar, wer zu erst wieder arbeiten geht. Ganz zu schweigen von der Situation der Alleinerziehenden, die im Zweifel Lohnarbeit und die gesamten Betreuungsaufgaben unter einen Hut bekommen müssen. Auf die staatlichen Lösungen, die jetzt gefunden wurden, ist nur eingeschränkt und auf Zeit verlass. Vielmehr ist zu sehen, wie stark unsere Gesellschaft mitsamt einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung auf die unter- und unbezahlte Arbeit von Frauen* und das Funktionieren der Kleinfamilie gebaut ist. Im Zweifel ist zu befürchten, dass sich bei einem längeren Andauern der Corona-Krise gerade die ökonomische Situation der Frauen* und die eigenständigen Existenzsicherung massiv verschlechtern wird. Das würde die Abhängigkeit der Frauen* von etwaigen Partnern vergrößern. Hier schlägt das kapitalistische Patriarchat in seiner vollen Wucht zu – die Gleichberechtigung der Geschlechter ist mehr als brüchig und der Rückfall in traditionelle Rollenbilder längst nicht abgewendet.

Grundsätzlich verstärken und reproduzieren die Maßnahmen gegen die Corona-Ausbreitung traditionelle Familienmodelle. Menschen werden zurückgeworfen auf (zumeist biologisch definierte) Familienzusammenhänge und Paarbeziehungen. Damit einher geht ein sehr konservatives Verständnis von Familie, das viele andere Beziehungs- und Familienkonstellationen vernachlässigt. Wenn man sich vorwiegend zuhause aufhalten und andere soziale Kontakte meiden soll, bedeutet das für viele, dass sie nur noch den Mitgliedern ihrer eigenen Kernfamilie oder dem*r Partner*in begegnen. Was macht das mit anderen Modellen von Beziehungen und der gegenseitigen Verantwortungsübernahme? Und was bedeutet das für Kinder, die nicht mit beiden Elternteilen in einem Haushalt aufwachsen oder die mehr oder andere enge Bezugspersonen als die Sorgeberechtigten haben? Corona darf nicht zu einem Rückzug ins Häusliche und einer noch stärkeren Idealisierung der bürgerlichen Kleinfamilie führen. Das würde am Ende der Verantwortungsübernahme und Solidarität in größeren Zusammenhängen entgegenstehen – und gerade in Krisenzeiten zeigt sich, wie notwendig diese ist.

Deshalb gilt gerade in Corona-Zeiten: Beobachtet die gesellschaftlichen Entwicklungen mit kritischem Blick, sprecht miteinander, bietet Unterstützung an, organisiert euch in der Nachbarschaft und unter Freund*innen und fragt selbst um Hilfe.

Wir möchten an dieser Stelle insbesondere auf die Angebote für Frauen*, die von Gewalt betroffen sind, hinweisen:

Frauen helfen Frauen: 0711 54 20 21
Städtische Frauenhaus: 0711 41 42 430
Beratungsstellen bei Häuslicher Gewalt: Frauenberatung FrauenFanal: 0711  4800212
Frauen Interventionsstelle (Beratung nach einem Polizeieinsatz): 0711 6744826
Beratungsstelle BIF – Beratung und Information für Frauen: 0711 649 45 50
Bundesweites Hilfetelefon bei häuslicher Gewalt: 0800 011 6016
Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800-22 55 530

Unterstützung erhalten Menschen, die sich derzeit nur eingeschränkt oder nicht selbst versorgen können bei folgenden Initiativen:

Stuttgart hilft: Stuttgart HILFT
Solidarisches Stuttgart: Solidarisches Stuttgart
Solidarisches Stuttgart bietet darüber hinaus auch eine arbeitsrechtliche Beratung an. Nähere Infos hier: https://www.solidarisches-stuttgart.org

Foto: Mandy Hildebrandt